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Epilepsien und Anfallsformen im Kindesalter

Epileptische Anfälle und Epilepsien können in jedem Lebensalter – auch schon bei Neugeborenen – auftreten. Manche Epilepsieformen klingen nach wenigen Jahren von allein ab und einige beeinträchtigen die Entwicklung des Kindes nicht nennenswert. Bei anderen Epilepsieformen, wenn diese auf angeborene Stoffwechselstörungen oder schwere Fehlentwicklungen des Gehirns zurückzuführen sind, kann es sein, dass die Anfälle trotz medikamentöser Behandlung auch im Erwachsenenalter weiterbestehen.

Im Folgenden finden Sie eine kurze Beschreibung einiger Epilepsien und Anfallsformen nach jeweiliger Altersgruppe. Epilepsie-Syndrome bei Kindern und Jugendlichen werden im nächsten Kapitel ausführlich erläutert.

Anfälle und Epilepsie bei Neugeborenen und Säuglingen

Anfälle sind die häufigsten neurologischen Notfälle im Neugeborenenalter. Neugeborene sind besonders gefährdet, einen zerebralen Krampfanfall zu erleiden; bei Frühgeborenen („Frühchen“) ist dieses Risiko noch erheblich größer. Ein Grund hierfür ist, dass von den Neugeborenen wichtige Regulationsvorgänge noch nicht stabil genug gesteuert werden können. In weniger als 15 % der Fälle markieren Neugeborenenanfälle den Beginn einer frühkindlichen und dann meist genetisch verursachten Epilepsie. Die Gründe für Neugeborenenanfälle sind sehr vielfältig. Zu den häufigsten Ursachen zählen:

  • Sauerstoffmangel im Gehirn, der vor, während oder kurz nach der Geburt auftritt und das Gehirn schädigt,
  • Blutungen im Gehirn,
  • Stoffwechselstörungen,
  • Fehlbildungen des Gehirns oder
  • Infektionen des Gehirns.
  • Mütterlicher Drogenmissbrauch kann zu neonatalen Anfällen führen beim akuten Entzug nach der Geburt.

Die Anfallssymptome sind entsprechend der Ursachen unterschiedlich, aber häufig recht unauffällig. Zum Beispiel können Anfälle mit rhythmischen Zuckungen der Arme, Beine oder Teile des Körpers auftreten, oder Anfälle mit wiederholten Mund- und Schluckbewegungen, Paddelbewegungen der Arme und Strampelbewegungen der Beine. Der Krankheitsverlauf wird wesentlich von der Ursache der Anfälle bestimmt. Durchschnittlich kommt es bei ungefähr 30 % der betroffenen Kinder zu Folge-Epilepsien – das heißt, circa 70 % der Neugeborenen mit Anfällen können anfallsfrei werden. 

Gutartige frühkindliche myoklonische Epilepsie

Diese seltene Form der Epilepsie tritt zwischen dem 4. Lebensmonat und dem 3. Lebensjahr auf. Sie ist gekennzeichnet durch kurze unwillkürliche Zuckungen (Myoklonien), die in der Stärke deutlich schwanken und zu jeder Tageszeit auftreten können. Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Nur selten kommt es zu einer leichten Entwicklungsverzögerung. Meist zeigen sich keine Auffälligkeiten in der körperlichen oder geistigen Entwicklung der betroffenen Kinder. Im weiteren Verlauf kommt es unter medikamentöser Behandlung in der Regel zu einer vollständigen Anfallskontrolle mit normaler geistiger und körperlicher Entwicklung. Gelegentlich können jedoch später generalisierte tonisch-klonische Anfälle hinzukommen.

Anfälle und Epilepsie bei Kleinkindern

Bei schätzungsweise 4 % aller Kinder treten bis zum 5. Lebensjahr epileptische Anfälle auf. Beispiele für in diesem Alter beginnende Epilepsien und Epilepsiesyndrome sind:

Fiebergebundene epileptische Anfälle (Fieberkrämpfe)

Fiebergebundene epileptische Anfälle, auch Fieberkrämpfe genannt, sind die häufigste Form epileptischer Anfälle. Sie sind bei Säuglingen und Kleinkindern im Alter zwischen 3 Monaten und 5 Jahren bei rasch ansteigendem Fieber (meist über 38 Grad) vorkommende Gelegenheitsanfälle. Diese epileptischen Anfälle gelten als Sonderform, da sie nur bei bestimmten auslösenden Bedingungen auftreten (Fieber), und zählen somit nicht zu den Epilepsien. Etwa 3 bis 4 % aller Kinder haben bis zu ihrem 5. Lebensjahr mindestens einen Fieberkrampf. Bei nur etwa 2 bis 3 % der Kinder mit Fieberkrämpfen tritt später eine Epilepsie auf. 

Fieberkrämpfe äußern sich meist in generalisierten tonisch-klonischen Anfällen mit einer Dauer von ca. 2 bis 3 Minuten. Sie können eine Komplikation einer Impfung sein, treten dann häufig innerhalb der ersten 24 bis 72 Stunden nach der Impfung auf und sind wahrscheinlich auf das schnell ansteigende Fieber zurückzuführen.

Fieberkrämpfe werden in einfache und komplexe Fieberkrämpfe unterteilt:

  • Einfache Fieberkrämpfe verlaufen als generalisierte tonisch-klonische Anfälle, treten innerhalb von 24 Stunden nur einmalig auf und dauern weniger als 15 Minuten.
  • Komplexe Fieberkrämpfe hingegen verlaufen als fokale Anfälle, können sich innerhalb von 24 Stunden wiederholen und länger als
    15 Minuten andauern. 

Sollte ein Fieberkrampf nicht innerhalb von maximal 5 Minuten spontan aufhören, muss der Anfall durch Verabreichung eines Anti-Anfallsmedikaments unterbrochen werden.

Die Großmutter misst beim Enkelkind Fieber.

Für die Eltern kann ein Fieberkrampf sehr dramatisch sein. Das Kind kann den Atem anhalten und blau anlaufen, sich versteifen, die Augen verdrehen und mit Armen und Beinen zucken. Zudem kann es zu Bewusstseinsverlust, einem Biss in die Zunge oder zum Abgang von Urin kommen. Dennoch besteht meistens kein Grund für eine dauerhafte Behandlung mit Anti-Anfallsmedikamenten. Tritt ein Anfall auf, sollte das betroffene Kind so früh wie möglich zur Erleichterung der Atmung auf die Seite gelegt werden. Um das Fieber zu senken, können feuchte Wickel oder ein kühles Bad und die Zuführung von fiebersenkenden Medikamenten eingesetzt werden. Die meisten Menschen, bei denen in der Kindheit Fieberkrämpfe auftraten, zeigten in der weiteren Entwicklung keine Komplikationen.


Epilepsie-Syndrome, die im frühen Kindesalter auftreten können, wie das Lennox-Gastaut-Syndrom und das Doose-Syndrom, werden im Kapitel Epileptische Syndrome im Kindesalter ausführlich beschrieben.

Epilepsie bei Kindern

Die meisten Kinder mit Epilepsie entwickeln sich normal. Sie gehen, wie alle Gleichaltrigen in den Kindergarten, in die Schule und durchlaufen die verschiedenen kindlichen Entwicklungsphasen. Es gibt mehrere Epilepsie-Formen, die im Kindheits- oder Jugendalter das erste Mal auftreten:

Rolando-Epilepsie

Die Rolando-Epilepsie ist eine gutartige, genetische Epilepsie mit besonders in der Nacht auftretenden fokalen Anfällen, die nur im Kindes- und Jugendalter vorkommt. Am häufigsten tritt diese Epilepsieform erstmalig zwischen dem 7. und 9. Lebensjahr auf (Altersspanne insgesamt: 2. bis 13. Lebensjahr). Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Die Rolando-Epilepsie ist die häufigste Epilepsie mit fokalen Anfällen des Kindesalters und macht ca. 15 % aller Epilepsien des Kindes- und Schulalters aus.

Das Kernsymptom der Rolando-Epilepsie sind vor allem nachts auftretende fokale Anfälle, die allein auftreten oder in einen generalisierten tonisch-klonischen Anfall übergehen können. Meist fühlen die betroffenen Kinder zu Beginn der Anfälle ein einseitiges Kribbeln oder Taubheitsgefühl einer Seite der Zunge, der Lippen, des Zahnfleisches oder der Innenseite einer Wange. Darauf folgen häufiger leichte Verkrampfungen und meist auch Zuckungen in denselben Regionen einschließlich der Gesichtsmuskulatur einer Seite. Es kann zu Schluckstörungen, vermehrtem Speichelfluss und länger anhaltende Sprachstörungen kommen. Die Entwicklung der Rolando-Epilepsie wird langfristig als günstig eingeschätzt. Die Anfälle hören mit dem Älterwerden auf: 90 % der betroffenen Kinder sind nach dem
12. Lebensjahr anfallsfrei und mit 18 Jahren sogar fast 100 %.

Die Vererbung spielt bei der Rolando-Epilepsie eine wichtige Rolle. Fast 50 % der erkrankten Kinder haben Verwandte, die von Anfällen oder Epilepsien betroffen sind.

Nicht jede Rolando-Epilepsie muss behandelt werden. Vor allem Kinder, deren Anfälle selten und nur nachts auftreten und bei denen der Schlaf durch das Anfallsgeschehen nicht deutlich beeinträchtigt wird, benötigen keine Behandlung.

Kindliche Absence-Epilepsie (Pyknolepsie)

Die kindliche Absence-Epilepsie (auch: Absence-Epilepsie des Kindesalters oder Pyknolepsie) ist eine der häufigsten Epilepsien im Kindesalter und macht etwa 8 bis 10 % aller Epilepsien aus. Sie beginnt meist im Grundschulalter (Altersgipfel: 6. bis 7. Lebensjahr; Altersspanne: 2. bis 12. Lebensjahr); Mädchen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Jungen. Die Ursache ist genetisch bedingt; so entwickeln bis zu 10 % der Geschwister von Betroffenen und bei einer Epilepsie der Mutter sogar etwa 20 % ebenfalls Anfälle.

Die einzige Anfallsform sind typische Absencen. Diese Anfälle äußern sich als kurze, abrupt einsetzende und wieder endende Bewusstseinsaussetzer mit offenen, starren Augen, wobei die Kinder meist plötzlich in dem, was sie gerade tun, innehalten, ohne Verkrampfen oder Sturz. Während des Anfalls sind die Kinder nicht ansprechbar und hinterher weisen sie eine Erinnerungslücke auf. In der Regel liegt die Dauer zwischen 4 und 20 Sekunden. Zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr treten täglich zahlreiche Absencen auf, vorwiegend in den Morgenstunden und bei Müdigkeit. Die Anfälle können sehr häufig (bis zu 100 oder 200 Mal pro Tag) auftreten. Aufgrund der sehr typischen EEG-Veränderungen ist die Diagnosestellung relativ eindeutig. Bedauerlicherweise kann es aber lange dauern, bis diese Kinder in einer kinderneurologischen Praxis vorgestellt werden, da Absencen oft als Unaufmerksamkeit oder Verträumtheit fehlgedeutet werden und die betroffenen Kinder als „Tagträumer“ oder „Hans-guck-in-die-Luft“ angesehen werden. Die Prognose der kindlichen Absence-Epilepsie ist sehr günstig. Mit den geeigneten Medikamenten kann in bis zu 90 % der Fälle eine Anfallsfreiheit erreicht werden. Jedoch treten bei etwa
40 % der Betroffenen in der Pubertät und Jugend generalisierte tonisch-klonische Anfälle auf.

Epilepsie bei Jugendlichen

Häufige generalisierte Epilepsien im Jugend- und frühen Erwachsenenalter sind die juvenile Absence-Epilepsie (JAE) und die juvenile myoklonische Epilepsie (JME). Bei den fokalen Epilepsien sind Temporallappen-Epilepsien und Frontallappen-Epilepsien häufig vertreten.

Juvenile Absence-Epilepsie (JAE)

Die juvenile Absence-Epilepsie (JAE) oder Absence-Epilepsie bei Jugendlichen ist gekennzeichnet durch das Auftreten typischer Absence-Anfälle, gelegentlich mit Automatismen (z. B. mit Handautomatismen) oder milden Myoklonien der Augenlider. Im Vergleich zu der kindlichen Absence-Epilepsie sind die Absencen allerdings meist kürzer und können ohne Bewusstseinsverlust verlaufen. Auch treten die Anfälle sehr viel seltener auf als bei der kindlichen Form und haben auch eine andere Anfallsverteilung: Insgesamt treten die ohnehin selteneren Anfälle entweder mit einer zeitweisen Häufung (zyklisch) oder nur gelegentlich (sporadisch) auf. Jedoch haben Betroffene zusätzlich begleitende primär generalisierte tonisch-klonische Anfälle, die bei etwa 75 % der Jugendlichen unmittelbar nach dem Aufwachen (Aufwach-Grand-mal-Anfälle), bei etwa 15 % der Betroffenen aus dem Schlaf heraus (Schlaf-Grand-mal-Anfälle) und bei etwa
10 % der Jugendlichen ohne tageszeitliche Bindung vorkommen. Diese genetisch bedingte generalisierte Epilepsie macht etwa 10 % der genetisch generalisierten Epilepsien aus. Bei etwa 5 % der nahen Verwandten finden sich weitere Epilepsien. Die juvenile Absence-Epilepsie tritt zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr (Altersgipfel: zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr) erstmals auf, also kurz vor oder während der Pubertät. Die Prognose in Bezug auf die Behandelbarkeit und Anfallsfreiheit ist in der Regel sehr gut: In den meisten Fällen ist die juvenile Absence-Epilepsie gut behandelbar – etwa 85 % der Jugendlichen werden anfallsfrei. Zudem ist die körperliche und geistige Entwicklung der Betroffenen in der Regel unauffällig. Allerdings muss damit gerechnet werden, dass nach dem Absetzen der Anti-Anfallsmedikamente bei jedem Zweiten später wieder Anfälle auftreten.

Juvenile myoklonische Epilepsie (JME; Janz-Syndrom)

Die juvenile myoklonische Epilepsie (JME; auch Janz-Syndrom) ist eine sehr häufige genetisch bedingte Epilepsie bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen. Sie macht etwa 10 % aller Epilepsien aus und ist im Altersbereich von 15 bis 20 Jahren sogar die häufigste Epilepsieform überhaupt. Bei etwa einem Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen befinden sich in der näheren Familie weitere Menschen mit Epilepsie.

Typischerweise beginnt die JME im Alter zwischen 8 und 26 Jahren, meist jedoch zwischen dem 12. und dem 18. Lebensjahr (Altersgipfel um das 15. Lebensjahr). Die myoklonischen Anfälle, also die typischen kurzen Muskelzuckungen, insbesondere im Bereich der Arme und Schultern, treten kurz nach dem Aufwachen auf, was sowohl frühmorgens als auch tagsüber (z. B. nach einem Mittagsschlaf) oder beim nächtlichen Aufstehen der Fall sein kann. Im Gegensatz zu vielen anderen generalisierten Anfallsformen tritt keine Bewusstseinsstörung auf. Schon zu Beginn, während oder nach der Pubertät, haben etwa 25 % der Jugendlichen zusätzliche, allerdings relativ seltene (typische) Absencen. Bei fast allen Betroffenen (über 90 %) kommt es innerhalb weniger Jahre auch zu selten auftretenden generalisierten tonisch-klonischen Anfällen. Die Muskelzuckungen geschehen plötzlich und unerwartet, so dass gerade in den Händen gehaltene Gegenstände oft fallen gelassen oder weggeschleudert werden.

Bei bis zu jedem zweiten Betroffenen können die Myoklonien durch Tätigkeiten wie zum Beispiel Greifen nach Gegenständen oder Klavierspielen ausgelöst werden. Etwa jeder 3. Betroffene erlebt Myoklonien im Bereich des Gesichts, die insbesondere durch Sprechen oder Lesen ausgelöst werden können. Wegen ihrer vergleichsweise harmlosen Ausprägung werden juvenile myoklonische Epilepsien oft lange Zeit nicht erkannt. Die Betroffenen und auch die Angehörigen nehmen diese Anfälle oft nicht ernst und bringen sie nicht mit einer eventuellen Epilepsie in Verbindung. Erst wenn auch generalisierte tonisch-klonische Anfälle hinzukommen, wird ärztlicher Rat hinzugezogen.

Die Erkrankung ist zwar in den meisten Fällen sehr gut behandelbar – fast immer lässt sich durch eine medikamentöse Behandlung Anfallsfreiheit erreichen – aber bei Therapiebeendigung besteht ein sehr hohes Risiko für erneute Anfälle.

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Letzte Aktualisierung: Oktober 2023